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Glas für Schienenfahrzeuge muss extremen Anforderungen standhalten: von der Schlagfestigkeit nach EN 12600 bis zum Brandschutz nach EN 45545. Dieser Guide erklärt die entscheidenden Normen, Materialien wie VSG und Polycarbonat sowie Innovationen wie Smart Glas und Leichtbau-Lösungen. Ein Muss für Ingenieure und Beschaffer im Bahnsektor.
Die Verglasung von Schienenfahrzeugen stellt eine komplexe Schnittstelle zwischen Sicherheitsvorschriften, technischer Machbarkeit und operativen Erfordernissen dar. Im Kern geht es um die Auswahl und Beschaffung von spezialisierten Glaslösungen, die extremen Belastungen standhalten müssen – von Vogelschlag über Vandalismus bis zu thermischen Spannungen. Die Sicherheit der Fahrgäste und des Personals hängt maßgeblich von der Qualität der Verglasungen ab, wobei internationale Normen wie EN 12600 und EN 45545-2 bei Glas für Schienenfahrzeuge verbindliche Rahmen setzen.
Die europäische Norm EN 12600 klassifiziert die Schlagfestigkeit von Sicherheitsglas in drei Kategorien (1B1 bis 3B3). Für Glas in Schienenfahrzeugen gelten dabei besonders strenge Prüfkriterien: in 50 kg schwerer Zwillingsreifen-Prüfkörper (Pendelsack) wird aus bis zu 1,2 Metern Höhe auf die Testscheiben fallen gelassen, um das Bruchverhalten zu analysieren. Die Anforderung der Klasse 3B3 ist hierbei Industriestandard für Frontscheiben von Hochgeschwindigkeitszügen. Parallel dazu regelt die Brandschutznorm EN 45545-2 das Brennverhalten von Materialien in Schienenfahrzeugen. Für Verglasungen bedeutet dies unter anderem, dass Verbundsicherheitsglas (VSG) bei Brandlasten keine toxischen Gase freisetzen darf und selbst bei extremer Hitzeeinwirkung strukturell stabil bleiben muss. Die jüngste Überarbeitung der Norm schließt explizit organische Beschichtungen und Verbundglas mit ein, was zu materialtechnischen Anpassungen geführt hat.
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Zur KontaktseiteDie Federal Railroad Administration (FRA) definiert in 49 CFR Part 223 präzise Standards für Sicherheitsverglasungen. Für Front- und Heckscheiben von Lokomotiven (Typ I) gelten verschärfte Ballistik- und Impaktprüfungen. Die Norm schreibt vor, dass gebrochene Seitenfenster innerhalb von 30 Tagen auszutauschen sind, während Windschutzscheiben sofort ersetzt werden müssen. Vollständig normkonform ausgerüstete Fahrzeuge tragen zudem einen Stempel mit der Kennzeichnung „Fully Equipped FRA Part 223 glazing“ im Innenraum.
Chemisch vorgespanntes Glas, dessen bekanntester Markenname “Gorilla Glass” ist, bildet die Basis moderner Zugverglasungen. Durch Ionenaustauschprozesse erreicht es eine bis zu achtfach höhere Bruchfestigkeit gegenüber normalem Floatglas. Obwohl es bei Beschädigung in längliche Splitter zerfällt, wird es aufgrund seiner Beständigkeit gegen Steinschlag bei Geschwindigkeiten über 300 km/h verbaut. Verbundsicherheitsglas (VSG) kombiniert dagegen zwei Glasscheiben mit einer reißfesten PVB-Folie. Beim Aufprall entsteht ein spinnennetzartiges Bruchmuster bei voller struktureller Integrität – weshalb es für Notausstiegfenster und Windschutzscheiben vorgeschrieben ist.
Polycarbonat-Scheiben mit bis zu 20-facher Schlagzähigkeit gegenüber Glas werden zunehmend für Notausstiegssysteme in Lokomotiven eingesetzt. Innovationen wie rahmenmontierte Systeme mit integriertem Auswurfmechanismus ermöglichen eine automatische Auslösung bei Druckbeaufschlagung und entsprechen damit den Anforderungen der FRA Typ II. Diese Systeme gestatten schnelle Evakuierungen ohne Werkzeug und erhöhen die Sicherheit im Notfall deutlich.
Elektrochrome Smart-Glas-Technologien revolutionieren den Fahrgastkomfort: Systeme auf Basis von Suspended Particle Device (SPD) erlauben eine stufenlose Regulierung der Transparenz von 0 bis 80 Prozent Lichtdurchlass per App-Steuerung. Die zwischen Glasschichten laminierten SPD-Folien blockieren zudem 99 Prozent der UV-Strahlung, schützen das Interieur vor Ausbleichen und reduzieren die Klimatisierungskosten durch adaptive Sonnenfilterung. Zudem ermöglichen integrierte Heizungen aus dünnen Wolframdrähten zwischen VSG-Schichten eine schnelle Enteisung von Frontscheiben bei bis zu minus 40 Grad Celsius innerhalb von 90 Sekunden und erfüllen hohe Zertifizierungsstandards für Hochgeschwindigkeitsstrecken.
Leichtbauglaslösungen wie das TRAV Light System bieten bei gleicher Belastbarkeit eine bis zu 50 Prozent geringere Masse gegenüber konventionellen Verglasungssystemen. Durch den Einsatz von 4 mm starken VSG-Folien innen und außen sowie spezialisierten Folien werden gute Wärmedurchgangswerte erzielt, was sich positiv auf die Energieeffizienz von Doppelstockzügen auswirkt.
Sphärisches Glasbiegen ist ein präziser Prozess, der temperaturgesteuerte Ofenlinien mit einer Genauigkeit von ±0,5 °C erfordert. Bei der Herstellung von Frontscheiben für Hochgeschwindigkeitszüge wird das Glas auf ca. 620 °C erhitzt und im Gravity-Bending-Verfahren über keramische Negativformen gebogen. Die anschließende kontrollierte Abkühlung und Härtung (ESG) erfolgt mit Hochdruckluft, während Verbundsicherheitsglas in Autoklaven bei erhöhten Temperaturen und Drücken laminiert wird. Produktionsstätten mit IRIS-Zertifizierung überwachen Maßhaltigkeit und Qualität mit Lasertriangulationssystemen auf ±0,1 mm genau.
Die statische Glasdimensionierung, insbesondere für strukturelle Anwendungen, richtet sich nach Baunormen wie DIN 18008 (DE) oder SIA 2057 (CH), die auf die spezifischen Lastfälle des Schienenverkehrs adaptiert werden. Rechenbelege müssen Windlasten bis 350 km/h, Temperaturdifferenzen von bis zu 60 Kelvin zwischen Außen- und Innenflächen sowie dynamische Radsatzlasten von bis zu 225 kN berücksichtigen. Für begehbare Verglasungen wie Wartungsstegen gelten zusätzliche Kriterien zu Personenfrequenz und Rutschsicherheit (R9-Wert).
Die Beschaffung von Ersatzverglasungen für ältere oder nicht mehr in Serie gefertigte Fahrzeugmodelle stellt eine besondere Herausforderung dar. Reverse Engineering mittels 3D-Laserscanning mit Toleranzen bis ±0,05 mm sichert die exakte Rekonstruktion fehlender Geometriedaten. Temperaturkontrollierte Transporte gewährleisten die Unversehrtheit der PVB-Folien sowie anderer empfindlicher Schichten. Die Koordination von Just-in-Time-Montagen innerhalb enger Servicefenster von nur wenigen Stunden optimiert die Fahrzeugverfügbarkeit. Beschaffungspartner mit Bahnexpertise begleiten diese Prozesse von der Analyse bis zur ISO-zertifizierten Endkontrolle.
Innovative Entwicklungen wie selbstheilende Polymerbeschichtungen auf Polyurethandispersionsbasis können Mikrorisse autonom schließen und versprechen eine Verdopplung der Lebensdauer von Seitenfenstern. Zudem forschen Institute an photovoltaisch aktiven Frontscheiben, die mittels organischer Solarzellen in Zwischenschichten bis zu 120 W/m² erzeugen – ausreichend zur Versorgung von Bordelektronik wie LED-Beleuchtungssystemen.
Die Beschaffung von Glas für Schienenfahrzeuge erfordert umfassendes technisches und regulatorisches Know-how. Wesentliche Erfolgsfaktoren sind die Einhaltung internationaler Normen, die Sicherstellung von Klimastabilität im Temperaturbereich von minus 40 bis plus 85 Grad Celsius sowie die Optimierung der Lebenszyklen zur Minimierung von Austauschzyklen. Experten mit spezifischer Erfahrung in der Bahnindustrie bieten maßgeschneiderte Lösungen vom Reverse Engineering bis zum globalen Sourcing und sichern so die dauerhafte Betriebssicherheit im spurgeführten Verkehr der Zukunft.
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